Arbeitskräftemangel - Thesenpapier der MIT Nord-Württemberg

Datum des Artikels 17.08.2022

Faktenlage:

1 - Für die Region Stuttgart wird bis ins Jahr 2030 ein Mangel von 155.000 Fachkräften prognostiziert, davon 135.000 beruflich Qualifizierte und 20.000 Akademiker (Quelle: IHK Stuttgart, 02/2022). Der Grund hierfür ist vor allem, dass wesentlich mehr Menschen (Baby-Boomer) in den Ruhestand gehen als junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten. Der Fehlbedarf an Fachkräften wird sich in diesen 7 Jahren vervierfachen.

2 - Aktuelle Engpässe bestehen vor allem in der Pflege, in medizinischen Berufen, in Bauberufen, Handwerksberufen und in IT-Berufen.

3 - Mehr als die Hälfte aller Jugendlichen schließt die Schule mit dem Abitur oder der Fachhochschulreife ab (Stand 2020). Von dieser jungen Menschen nehmen mehr als 75% ein Studium auf. Ein Drittel aller Studienanfänger (männlich wie weiblich) brechen ihr Studium innerhalb der ersten fünf Semester ab.

4 - Dennoch haben wir in wichtigen Bereichen zu wenig Akademiker: Wir haben einen steigenden Mangel an Ingenieuren bei uns. Im Jahr 2030 werden 23% weniger Naturwissenschaftler und Ingenieure die Hochschule verlassen. In der Region Stuttgart werden rund 6.000 Ingenieure und Naturwissenschaftler fehlen.

5 - Das Handwerk ist fast flächendeckend vom qualifizierten Personalmangel betroffen. Es fehlen Meister, Techniker und Fachkaufleute. Am stärksten betroffen sind Hochbau, Tiefbau, Sanitär, Heizung, Elektro sowie Bäcker und Metzger.

6 - Die Gastronomie meldet aktuell einen immensen Engpass an Service- und Aushilfskräften. Jeder zweite Betrieb hat zu wenig Personal. Ganz oft müssen deshalb die Öffnungszeiten eingeschränkt werden.


Fazit:

Derzeit sind in der Region Stuttgart 1,28 Mio. sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer gemeldet. Wenn die Prognosen eintreffen, wird im Jahr 2030 (rechnerisch) etwa jede 9. Stelle (11,7%) nicht mehr besetzt sein. Bis 2035 wird die Lage noch dramatischer.

Dabei ist wahrscheinlich, dass die namhaften „Leuchttürme“ der Wirtschaftsregion vergleichsweise weniger Probleme haben werden (weil sie mit Mitarbeitermarketing und Azubimarketing bereits begonnen haben und allgemein attraktive „Pakete“ bieten können), während KMU in den kleineren, weniger gut ans Verkehrsnetz angebundenen Orten der Region vor erheblichen Schwierigkeiten stehen werden.

Hinzu kommt, dass es immer schon attraktive und weniger attraktive Berufe gab. Es ist also davon auszugehen, dass der Mitarbeitermangel in wenig attraktiveren Berufen dramatisch größer werden wird.

 

Exkurs – Folgen für den Wirtschaftsstandort:

Welche Optionen haben Unternehmen, die nicht genügend Personal finden?

Erste Option Betriebsaufgabe. Man könnte ökonomisch sagen: wer im Kampf um die „Ressource Mitarbeiter“ nicht mithalten kann, den nehmen die Marktgesetze aus dem Spiel. Die Folgen für das Steueraufkommen wären eher gering. Allerdings könnte es in manchen Branchen zur Mangelversorgung kommen (Friseure in kleiner Gemeinde, Versorgung im Handwerk zum Beispiel).

Zweite Option: Standortverlagerung. Ein Unternehmen kann ganz oder in Teilen in eine Region gehen, in der ein höheres Angebot auf dem Arbeitsmarkt besteht. Diese Möglichkeit haben größere Unternehmen, indem sie zum Beispiel ihre Produktion (ins Ausland) verlagern. Sehr viele bestehende KMU, Dienstleister und Handwerksbetriebe haben diese Möglichkeit jedoch nicht.

Dritte Option: Kapazitätsabbau. Wer mangels Personal nicht mehr zehn Maschinen betreiben kann, sondern nur noch fünf, muss mit halbem Umsatz zurechtkommen. Das kann sich in manchen Fällen „rechnen“, in vielen anderen Unternehmen lässt sich diese Strategie jedoch nicht umsetzen. Auf jeden Fall geht der Region Umsatz und somit auch Steuerkraft verloren.

Alle drei Optionen (vielleicht gibt es noch weitere) sind nachteilig für die Unternehmen, für die betroffenen Beschäftigten und für die gesamte Region.

Politik für die Wirtschaft (also Wirtschaftspolitik) sollte den Anspruch haben, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass diese Entwicklungen verhindert werden.
(Exkurs Ende)


Konsequenzen:

1 – Offene Stellen besetzen – Arbeitsmarktorientierte Zuwanderung

These 1: Der Mangel an Arbeitskräften wird dramatisch. Das zur Bundesagentur für Arbeit gehörige IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) hält eine Nettozuwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr (ganz Deutschland) für notwendig, um die in die Rente gehenden geburtenstarken Jahrgänge auszugleichen. Diese Zahl wird jedoch als unrealistisch erachtet. Mittel- bis langfristig hält es das IAB für möglich, jährlich 100.000 Menschen aus dem Ausland zu uns zu holen. Allerdings würde dann trotzdem die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland von heute etwa 47 Millionen Menschen bis 2050 auf 41 Millionen Menschen zurückgehen.

These 2: Um es etwas konkreter zu machen: Kämen tatsächlich jährlich 100.000 Menschen aus dem Ausland nach Deutschland, entspräche dies rechnerisch einer Zuwanderung in Baden-Württemberg von etwa 10.000. Für die Region (wiederum rechnerisch) würde dies eine Zuwanderung von 2.500 Menschen pro Jahr bedeuten.

These 3: Die große Zahl an offenen Stellen zu besetzen, wird ohne Zuwanderung nicht möglich sein. Dabei ist das größte Problem für zuziehende Menschen, eine Wohnung zu finden. Wer Zuzug will, muss Wohnungen bauen.

These 4: Es liegt in unserem Interesse, dass qualifizierte Arbeitskräfte aus der EU den Weg nach Baden-Württemberg und in die Region Stuttgart finden. Also muss man erstens gezielt um Personen aus den Mangelberufe werben. Zweitens kann diese Strategie jedoch nur aufgehen, wenn wir diesen Menschen gewisse Hilfen für ihre Integration zukommen lassen (Deutschkenntnisse, Wohnraum, Kinderbetreuung, Information). Qualifizierte Arbeitskräfte (mit Familie) werden nur zu uns kommen, wenn sie hier auch eine Wohnung und Kinderbetreuung finden können.

These 5: Die gesetzlichen Regelungen in Deutschland sind nicht darauf ausgelegt, dass qualifizierte Arbeitssuchende aus dem nichteuropäischen Ausland unbürokratisch und schnell zu uns kommen können. Zudem gibt es Ausländer (Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die nicht dauerhaft in Deutschland leben oder leben dürfen), die trotz erfolgreicher Integration in den Arbeitsmarkt das Land wieder verlassen müssen. Zusammen mit den Innenpolitikern müssen wir hier bessere Lösungen finden.

These 6: Notwendig sind kostengünstige Wohnangebote u.a. für Auszubildende, die aus anderen Regionen zu uns kommen. Was für Studierende selbstverständlich ist (Wohnheime zum Beispiel) müsste auch für Auszubildende aufgebaut werden. Dabei könnten Land, Kommunen und Wirtschaftsverbände ein gemeinsames Modell entwickeln (zum Beispiel IHK oder Handwerkskammer als Träger, finanzielle Förderung durch das Land und Flächenbereitstellung in Erbpacht durch die Kommune).


2 – Arbeiten ermöglichen – Arbeitsmarkt öffnen und Hindernisse beseitigen

These 7: Trotz aller Verbesserungen in der Kinderbetreuung können gut ausgebildete Mütter  (und zunehmend Väter) nicht in dem Maß arbeiten, wie sie es wollten. Der weitere Ausbau der Kinderbetreuung ist daher auch im Interesse der Unternehmen und trägt dazu bei, den Bedarf an qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu decken.

These 8: Mehr und länger zu arbeiten, muss sich auch netto auszahlen. Die Progression im Steuersystem „bestraft“ jedoch jeden zusätzlich verdienten Euro. (Beispiel: bei Monatsbruttolohn von 2.000 Euro bezahlt man 28,2% (Steuerklasse 4) Steuern und Sozialabgaben. Verdient man 3.000 Euro, steigt dieser Satz auf 33,7% an. Das heißt: von den zusätzlich verdienten 1.000 Euro bleiben nur 552,40 Euro netto übrig.)

These 9: Wir müssen es schaffen, dass mehr Menschen länger arbeiten.

These 10: „Nebenher“ arbeiten darf nicht bestraft werden. Wer zum Beispiel als Student in der Gastro jobbt, darf nur 452 Euro im Monat bzw. 5.422 Euro im Jahr verdienen, ohne dass das BAföG gekürzt wird. Ab 9.744 Euro Jahresbrutto (das sind 812 Euro im Monat) sind Steuern und Sozialabgaben fällig.

These 11: Unser Ziel ist, dass mehr Menschen mehr arbeiten. Dabei können zusätzliche Potenziale genutzt werden, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer in größerem Maß  individuelle Arbeitszeitmodelle vereinbaren.

These 12: In beiderseitigem Interesse können auch Arbeitszeitmodelle hilfreich sein, die das Arbeiten im Homeoffice enthalten.

These 13: Die Hauptaufgabe der Arbeitsvermittlung wird immer weniger, (mehr oder weniger arbeitswillige) Arbeitskräfte in eine passende Beschäftigung zu vermitteln. Die Hauptaufgabe wird immer mehr, Arbeitskräfte für die vielen offenen Stellen in den Unternehmen zu finden.

These 14: Aus diesem Grund muss auch die berufsbegleitende Weiterbildung ausgebaut werden.

These 15: Bei der Integration von Arbeitskräften aus dem Ausland besteht ein Spannungsfeld. Einerseits wollen und brauchen wir diese Arbeitskräfte (insbesondere in den Mangelberufen) und können nicht erwarten, dass alle diese Arbeitskräfte eine in allen Teilen unseren Standards entsprechende Berufsqualifikation vorweisen. Andererseits wollen wir vermeiden, dass unsere Standards verwässert werden. Vorschlag deshalb: Anstatt auf langwierige und komplexe Prüfungen um die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen zu warten, sollten diese Arbeitskräfte in der Praxis, also im Betrieb, zeigen, was sie können und was nicht. Wer kann besser beurteilen, in welchen Bereichen individuell nachgeschult werden muss, als der Betrieb?

 

3 – Vorhandene Potenziale nutzen – Berufsberatung und Infos zur Berufswahl

These 16: Wir brauchen mehr junge Menschen in der beruflichen Ausbildung, weniger junge Menschen im Studium und bei den Studierenden mehr junge Menschen in Maschinenbau, Ingenieursstudiengängen und IT.

These 17: Die Entscheidung über die Berufswahl wird maßgeblich durch das Elternhaus und die Schule gelenkt. In den Schulen werden die Schülerinnen und Schüler nach wie überwiegend vor „Pro Studium“ beeinflusst. Es gilt also, die Lehrerinnen und Lehrer zum Umdenken zu bringen. Ohne die Bildungspolitiker wird es aber nicht gelingen, im Kultusministerium die notwendigen konkreten Veränderungen (ergebnisoffene Berufsorientierung, Stärkung der ökonomischen Bildung) auf den Weg zu bringen.

These 18: Wir wollen die berufliche Ausbildung finanziell gegenüber dem Studium gleichstellen. Berufliche Weiterbildung liegt im gesellschaftlichen Interesse. Nicht nur im Handwerk müssen wir den Aufstieg weiter fördern („Meister-Bonus“), die Förderung muss auch auf die IHK-Berufe ausgeweitet werden.

These 19: In der öffentlichen Diskussion ist zu wenig präsent, dass das Durchschnittseinkommen eines Hochschulabsolventen in Deutschland bei 3.780 Euro brutto im Monat liegt. Wenn sie ihren ersten Job antreten, haben Fachkräfte ohne Studium bereits mindestens 4 Jahre Geld verdient und sind mitten auf dem Weg zum Durchschnittseinkommen von 4.100 Euro brutto. Außerdem ist eine praxisbezogene Ausbildung eine ideale Grundlage für den Weg in die Selbstständigkeit und für einen erfolgreichen Berufsweg.

These 20: Ebenfalls zu wenig bekannt ist, dass die Lehre ein idealer Einstieg ist, um anschließend ein Fachhochschulstudium oder eine andere Weiterbildung anzuhängen. Mit dieser Qualifikation erreicht man vielfach das gleiche Einkommensniveau wie als Akademiker. Wer mit einer solchen Basis ins Berufsleben geht, braucht sich über Arbeitslosigkeit keine Gedanken zu machen. Diese Botschaften müssen viel stärker in die Öffentlichkeit gebracht werden.

These 21: In Baden-Württemberg verlassen jährlich knapp 6.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Die Chancen dieser Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt, aber auch ihr Nutzen für den Arbeitsmarkt sind daher sehr begrenzt.

Es fällt dabei auf, dass mehr als die Hälfte von ihnen aus einer Sonderschule kommt. Seit Jahren ist dieser Anteil durchgehend hoch. Dass es anders geht, zeigt sich bei den Werkrealschulen und Hauptschulen. Prozentual wie in absoluten Zahlen ist es über die Jahre hinweg gelungen, dass deutlich weniger Absolventen ohne Abschluss in den Arbeitsmarkt entlassen werden.


4 – Konsequenzen für clevere Unternehmen

These 22: KMU werden vom Arbeitskräftemangel mehr betroffen sein als die Industrie. Unternehmen in den Außengebieten der Region werden eher betroffen sein als Unternehmen in zentrumsnahen oder verkehrlich gut angeschlossenen Standorten. Unternehmen, die prestigeträchtige Berufsbilder bieten, werden weniger betroffen sein als Unternehmen mit weniger attraktiven Berufen.

These 23: Ein entscheidender Faktor bei der Mitarbeitergewinnung wird sein, ob ein Unternehmen frühzeitig (das heißt früher als die unmittelbaren Mitbewerber) mit einen Konzept im Mitarbeitermarketing und Azubimarketing an den Start geht. Welche Alleinstellungsmerkmale hat das Unternehmen? Was unterscheidet es in punkto Personalentwicklung, Weiterbildung und Wertschätzung? Warum soll sich ein Bewerber für dieses Unternehmen entscheiden? In immer mehr Branchen wird gelten: nicht der Wettbewerb um den Kunden steht im Fokus, sondern der Wettbewerb um Mitarbeiter („war for talents“).

(Beschlossen vom Kreisvorstand am 25.06.2022)